Yvonne Treusch am Waidmarkt

Interview mit Yvonne Treusch, Ergotherapeutin

„Gemeinsames Tun hat positive Effekte, die oft unterschätzt werden“

Interview mit Yvonne Treusch, Ergotherapeutin und Vizepräsidentin der Hochschule Döpfer für Gesundheitsberufe

Frau Prof. Treusch, was genau ist eigentlich Ergotherapie? 
Die Ergotherapie unterstützt Menschen in ihrer Handlungsfähigkeit. Ein Beispiel: Jemand hatte einen Schlaganfall und ist halbseitig gelähmt. Dann muss der Alltag wieder bewältigt werden. Aber Brötchen aufschneiden und Schuhe zubinden geht nicht mehr wie früher. Ergotherapeuten unterstützen in diesem Fall dabei, alles Mögliche z. B. mit nur einer Hand zu erlernen. 

Wie sind Sie zu diesem Beruf gekommen? 
Ich war nach dem Abitur etwas orientierungslos. Darüber habe ich viel mit Freunden gesprochen. Eine Freundin erzählte mir von dem Beruf Ergotherapeut. Nach drei Monaten Praktikum war ich absolut überzeugt. 

Welche Erfahrungen haben Sie in diesem ersten Praktikum gemacht?  
Das Praktikum war in einer Psychiatrie. Dort arbeiten Therapeuten, Pflegende und Ärzte aus unterschiedlichen Perspektiven mit den Patienten und dabei läuft vieles auf der verbalen Ebene. Man redet, redet, redet mit den Patienten. Das ist gut und richtig. Die Ergotherapie setzt dabei besonders nah an den Ressourcen an. Sie fragt nicht nur sehr direkt: Was sind die Kraftquellen für den Menschen? Sondern sie setzt auch gleich um: In der Ergotherapie macht man etwas zusammen, man handelt zusammen. Und dieses gemeinsame Tun hat positive Effekte, die oft unterschätzt werden. So kann Ergotherapie zum Beispiel dazu beitragen, depressive Symptome zu lindern, die in Zusammenhang mit verschiedenen Erkrankungen auftreten. 

Was war ihr größtes Erfolgserlebnis in diesem Praktikum?
Menschen mit Depressionen z. B. denken häufig, dass alles, was sie tun, ein Kraftakt ist. Und dann mitzuerleben, wie jemand merkt, es gibt einem sogar Energie, wenn ich etwas mit anderen mache und da Spaß dran habe: Das ist das größte Erfolgserlebnis. 

Warum sind Sie nicht bei der Arbeit mit Patienten geblieben, sondern in die Forschung gegangen? 
In einem interdisziplinären Umfeld wie einer Klinik ist es schwierig zu sagen, genau die Ergotherapie war jetzt der Faktor, der geholfen hat. Mich haben auch immer die Studien unter kontrollierten Bedingungen interessiert. Es ist so nachweisbar, dass Ergotherapie wirkt. Und diese Nachweise sind wichtig, damit die Ergotherapie langfristig als Angebot bestehen kann.

Früher war Ergotherapie ein klassischer Ausbildungsberuf, aber das ändert sich. Wie sehen Sie die Akademisierung des Berufs? 
Um Ergotherapeut zu werden, muss man bereits in allen anderen europäischen Ländern studieren, nur in Deutschland noch nicht. Im Sinne der Bologna-Reform soll der Ausbildungsweg angeglichen werden. Das hat aus meiner Sicht viele Vorteile:  Erstens kann man als Ergotherapeut aus Deutschland mit einem Studium problemlos im Ausland Arbeit finden. Zweitens wird Deutschland dadurch im Bereich Ergotherapie international wissenschaftlich anschlussfähig. Drittens eröffnet das Studium jedem Einzelnen zusätzliche Möglichkeiten. 

Welche Möglichkeiten sind das? 
An der Hochschule Döpfer haben wir zum Beispiel neben den wissenschaftlichen Modulen auch Kurse in Führung und Management, die darauf vorbereiten, eine Praxis oder eine Abteilung im Krankenhaus zu leiten. Außerdem lernt man im Studium, die Alltagspraxis und die Wissenschaft zu reflektieren und ethisch zu betrachten und selbstständig zu arbeiten. Der Horizont vergrößert sich und damit auch die Karriereoptionen. 

Inwiefern nützt das später den Patienten? 
Der Patient hat ein Recht auf eine Behandlung, die dem aktuellen wissenschaftlichen Stand entspricht. Das ist gesetzlich vorgeschrieben. Für Menschen, die andere Menschen behandeln –  in der Forschung sprechen wir von „Interventionen“ – muss daher klar sein, wie sie selbst diese Interventionen  wissenschaftlich bewerten können. Ohne diesen Zugang zu Wissenschaft kann man kaum auf aktuellem wissenschaftlichem Stand behandeln. 

Wie bewerten Sie die Arbeit der Kollegen, die „nur“ eine Ausbildung absolviert haben? 
Es gibt, solange das Studium optional ist, nicht Therapeuten erster und zweiter Klasse. Die Fachschulen, mit denen ich in Kontakt bin, bilden super aus. Mit Blick auf die Zukunft glaube ich allerdings, dass Forschung und die Frage nach der Wirksamkeit der Intervention immer wichtiger wird.

Warum genau? 
Der Zugang zu Ergotherapie und zum Beispiel auch Physiotherapie könnte in Zukunft erleichtert werden, so dass nicht erst eine Überweisung vom Hausarzt notwendig ist. Man kann dann mit Rückenschmerzen zum Beispiel direkt zum Physiotherapeuten gehen. Das ist sinnvoll, weil die Behandlung schneller beginnen kann. Für die Therapeuten bedeutet das aber noch mehr Verantwortung: Sie müssen wissen, ob Beschwerden im Einzelfall so bedrohlich sind, dass sie den Patienten lieber doch erst zum Allgemeinmediziner schicken. Das bedarf meiner Meinung nach schon einer akademischen Ausbildung.

Der Zugang zur Behandlung wird leichter; steht Ergotherapie dann demnächst auf einer Stufe mit Wellness-Angeboten? 
Es gibt in der Ergotherapie präventive Angebote, die für alle da sind. Darüber hinaus besteht im Gesundheitswesen so viel Bedarf, den man gar nicht bedienen kann. Dann sind vom Therapeuten auch ethische Überlegungen gefragt: Wo grenze ich mich ab? Wo helfe ich? Wo ist das richtige Maß? Ich will, dass die Absolventen unserer Hochschule hier rausgehen und richtige Entscheidungen treffen und dass die Wissenschaft der Kompass dabei ist. 

Vermissen Sie die praktische Arbeit wirklich kein bisschen? 
Doch, den direkten Kontakt zu Patienten vermisse ich schon manchmal. Aber dafür habe ich den direkten Kontakt zu Studierenden. Von denen sind viele schon in der Praxis und bringen spannende Fragen mit. Dann schauen wir zusammen, was sagt die Wissenschaft dazu, wie können wir da weiter vorgehen? Das ist dann manchmal auch Teamwork und macht mir wirklich Spaß.  Und das macht den Beruf für mich immer noch sehr konkret erfahrbar. Man hat ja einerseits seine Theorien und Forschungsergebnisse, aber wie die dann in die Praxis kommen, ist die zweite Frage. Und das geht über die Weitergabe an die Studierenden und ihre Rückmeldungen aus der Praxis. 

Wie wichtig ist Köln als Standortfaktor für eine Hochschule? 
Köln ist sicherlich ein attraktiver Ort für Studierende. Wir haben Studierende aus ganz Deutschland und gestalten das Studium sehr flexibel. Zusätzlich haben wir noch Standorte in Regensburg und Potsdam. Nicht zuletzt seit der Pandemie ist auch die virtuelle Teilnahme für Studierende möglich. Aber viele sagen eben doch: Wir kommen gerne für’s Wochenendseminar, mögen den Austausch mit Kommilitonen vor Ort. Die mieten sich zum Beispiel als Gruppe aus Hamburg einen Bus und ein B’n’B und machen ein Event daraus.

Sind Sie in Köln aufgewachsen? 
Ich bin in Köln geboren und in Kerpen aufgewachsen. Aber Köln war immer ein Bezugspunkt. An den Wochenenden war ich schon als Kind häufig mit meiner Familie in Köln. Sonntags zum Essen, das war das Highlight. Oder in den Zoo, ins Aquarium, in die Flora. Das waren typische Wochenendaktivitäten, die ich heute gerne mit meinem Sohn wiederhole. 

Sie haben nach dem Studium vorübergehend in der Schweiz gelebt…
Das war in Winterthur, dort gab es eine feste Stelle für Ergotherapie-Forschung. Mein erster Gedanke war: Ich kenne da keinen, ich will da nicht hin. Aber die Stelle hat mich entschädigt, die Möglichkeiten der Forschung in den Therapieberufen waren wirklich außergewöhnlich. 

Wie groß war der Kulturschock? 
Im beruflichen Umfeld gar nicht so groß. Aber die offene, integrierende Art in Alltagssituationen hat mir gefehlt. Immer wenn ich in Köln zu Besuch war, dachte ich: Unfassbar, welche Gespräche sich hier an der Supermarktkasse ergeben können. So direkt, so herzlich.

Sie sind dann als Vizepräsidentin der Hochschule Döpfer zurück nach Köln gekommen. Die Hochschule liegt am Waidmarkt nahe der Einsturzstelle des Stadtarchivs. Mit welchem Gefühl geht man da täglich zur Arbeit? 
Das ist schon ein beklemmendes Gefühl. Das Gedenken an die Opfer ist für mich jetzt schon sehr präsent, auch wenn die offizielle Gedenkstätte erst noch kommen wird. Aber von der Hochschule aus können wir auch sehr gut die Fortschritte auf der Baustelle beobachten. Ein ehemaliger Kollege, der vor einiger Zeit weggezogen ist, fragt mich manchmal immer noch: „Wie sieht es da jetzt aus? Mach doch nochmal ein Foto.” 

Die Baustelle ist ein Ort der Identifikation geworden? 
Ja, total.

Welche Orte in Köln sind Ihnen persönlich wichtig? 
Die ganze Südstadt mag ich sehr. Hier kann man so schön durch die Seitenstraßen schlendern und dabei immer etwas Neues entdecken. Das Belgische Viertel mag ich, weil es mich an Berlin erinnert, wo ich studiert habe. Alles in allem gefällt mir, dass sogar in der Innenstadt die Wege zwischen Tumult und ruhigen Ecken manchmal ganz kurz sind. 

Was fehlt Ihnen in Köln? 
Ich mag Räume, die eine soziale Durchmischung erlauben, wo sich verschiedene Generationen begegnen. Zum Beispiel Cafés, in die man mit Kindern gehen kann und wo die so laut sein dürfen, wie sie wollen. Oder Repair-Cafés, wo nicht das Konsumieren im Vordergrund steht, sondern das Machen. Ich mag, wenn eine Krankenhaus-Gastronomie so ansprechend ist, dass sie auch die breite Öffentlichkeit anzieht und das Krankenhaus auf diese Weise nicht so im Abseits ist. Von solchen Räumen kann es eigentlich nie genug geben. 

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